Ist der Narzisst ein Opfer?
- Vanessa
- 19. Apr. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Apr.
Insbesondere ein verdeckter Narzisst sieht sich selbst stets in der Position eines Opfers. Aktive Handlungen seinerseits, die einer Opferrolle widersprechen, wie z.B. den Partner betrügen, bewusste Täuschung, Erpressung, Diebstahl etc., werden deshalb in den sonst so ausführlichen Erzählungen gegenüber Dritten großzügig weggelassen. Auf das Fehlverhalten angesprochen oder gar mit Beweisen sichtbar gemacht, bleibt die narzisstische Persönlichkeit in jedem Fall hartnäckig bei seiner „Version der Geschichte“, in der er eben immer das Opfer ist, während die Welt um ihn herum ihm aus heiterem Himmel Schaden zufügen will. Leugnen, Lügen und ganze Ereignisse sind so nie passiert: Die narzisstische Realitätsverdrehung macht selbst vor Fakten und Tatsachen keinen Halt, sondern geht mit viel Fantasie weit darüber hinaus. Ganz nach dem Motto: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.
Wer noch Teil dieser narzisstischen Realität ist, sieht sich selbst in einem Strudel aus Manipulationen, Angst und emotionalen Abhängigkeiten gefangen und kann das narzisstische Gegenüber nicht als das erkennen, was es wirklich ist: Einen Lügner. Narzisstische Persönlichkeiten lügen selbst in den banalsten Alltagssituationen, so dass es unmöglich ist eine „normale“ Interaktionen und Kommunikation zu führen. Die Lüge des ewigen Opfers ist dabei nur eine von vielen und doch das Mantra der meisten verdeckten Narzissten. So können sie sich der Sympathie und emotionalen Unterstützung ihres Gegenübers sicher sein, denn wer würde einem „Opfer“ noch mehr schaden wollen? Als empathisch soziale Menschen tendieren wir erst einmal dazu unserem Gegenüber zu glauben, bis wir einen Grund finden, der Zweifel und Misstrauen weckt. Wer reagiert also nicht erst einmal mit Mitgefühl auf etwaige traurige Geschichten und tränenreiche und vor Ungerechtigkeit triefende Erlebnisse?
Irgendwann jedoch wird die Negativität des Narzissten durchkommen und die Geschichten fangen an sich zu wiederholen – nur die Namen der involvierten Personen ändern sich.
Der Narzisst sieht sich also in jedem Fall als Opfer, doch ist er auch eines?
Tatsache ist: Narzissmus ist keine biologisch vererbbare Störung. Sie wird durch das soziale Umfeld, durch die Erziehung des Kindes geschaffen. Um genau zu sein: Durch eine Vernachlässigung und gleichzeitige Überhöhung des Kindes.
Das bedeutet, das Kind bekommt keine wertvolle Aufmerksamkeit und positive Zuwendung seitens der Eltern oder Erziehungsberechtigten. Vielmehr wird es emotional, seelisch oder auch körperlich vernachlässigt und bleibt in seinen Bedürfnissen und Wünschen ungesehen und ungehört. Gleichzeitig findet jedoch auch eine Überhöhung des Kindes statt: Dem Kind werden keine Grenzen gesetzt und auf (offensichtliches) Fehlverhalten seitens des Kindes wird nicht mit angemessener Kritik reagiert. Das Kind macht scheinbar nie etwas falsch. Fehler werden einfach ignoriert, und teilweise auch positive Meilensteine. Doch erfährt das Kind Kritik von Außenstehenden, z.B. durch Erzieher, Lehrer, Verwandte etc., reagieren die Eltern übermäßig zornig darauf. Denn: Kritik am Kind bedeutet Kritik am Elternteil, und das ist nicht vertretbar. Dann sind alle anderen verantwortlich für das Fehlverhalten des Kindes, nur das Kind und deren Eltern nicht.
Es existiert keine angemessene und realistische Reaktion der Eltern, sowohl auf negatives wie auch auf positives Verhalten des Kindes. Über allem steht das Desinteresse der Eltern, die nicht in der Lage sind, kompetent und liebevoll auf Kind einzugehen. Die Eltern sehen ihr Kind in seiner Persönlichkeit nicht so wie es wirklich ist und nehmen ihm die Chance, der Mensch zu werden, der ihm vorbestimmt war zu sein - durch ihre eigene verzerrte Wahrnehmung. Das Kind bleibt ungesehen in seinen wahren Bedürfnissen auf Grund desinteressierter Bezugspersonen: Ein unsichtbares Kind wird zu einem Narzissten – für den nun wiederrum die Bedürfnisse seiner Umwelt keine Rolle spielen. Die Geschichte wiederholt sich – mal wieder.

Der Narzisst WAR in seinen Kindheitstagen durchaus ein Opfer, doch als Erwachsener ist auch er in der Lage, die eigene Vergangenheit reflektiert und ehrlich zu betrachten. Doch viele entscheiden sich dafür, das eigene Leid an Unbeteiligte weiterzugeben, um den eigenen Schmerz nicht fühlen zu müssen: „Denn, so wie ich gelitten habe, sollen auch alle anderen leiden!“ Die Wandlung vom Opfer zum Täter ist psychologisch gesehen keine Überraschung, doch kann in unserer Gesellschaft nichts besser werden, wenn sich jeder der eigenen Verantwortung entzieht, die eigenen Schattenanteile zu verarbeiten und zu integrieren.
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