Wie hast du überlebt? Leben oder Überleben im toxischen Familiensystem
- Vanessa
- 26. Dez. 2023
- 8 Min. Lesezeit
Die Erfahrungen, die Sie in ihrer Kindheit machen durften, haben Sie nicht nur allgemein gesprochen zu dem Menschen gemacht, der Sie heute sind. Nein, Sie haben signifikanten Einfluss auf die bio-chemische Entwicklung ihres Gehirns gehabt. Je traumatisierender diese Erfahrungen waren, umso mehr hat sich ihr Gehirn an die negativ stimulierenden Ereignisse angepasst. Das Trauma ihrer Kindheit hat Sie verändert – auch biologisch:
„Bei der zweiten Belastung handelt es sich um eine Störung der frühen Interaktionen zwischen Kind und Bezugsperson. Wenn diese Interaktionen chaotisch, unbeständig, lieblos oder aggressiv sind oder sogar fehlen, entwickeln sich die Stressantwortsysteme auf anomale Weise“ (Perry, 91). Und: "Kindheitserfahrungen wirken sich buchstäblich auf die Biologie des Gehirns aus“ (93). (Auszug aus: Perry, Bruce D., Winfrey Oprah (2022): Was ist dein Schmerz? Gespräche über Trauma, seelische Verletzungen und Heilung. Arkana Verlag, München.)
Es ist dementsprechend nicht möglich diese traumatischen Erfahrungen und den emotionalen Missbrauch einfach „abzuhaken“ und so zu tun als wäre nichts passiert. Sie reagieren schon mit jedem Schritt, mit jeder Entscheidung, mit jedem Wort, mit jedem Gedanken auf das Trauma ihrer Kindheit – ohne es zu wissen. Ihr Verhalten, Ihre Entscheidungen, ihre Gefühle, ihre bewussten Handlungen, ja, ihr ganzes Leben sähe anders aus, wären Sie nicht in einem toxischen Haushalt aufgewachsen und beständig den ungesunden Einflüssen der Erwachsenen ausgesetzt gewesen. Vielleicht wären Sie ausgeglichener. Vielleicht wären Sie mutiger. Vielleicht wären Sie freier in Ihrem Tun. Vielleicht wären Sie glücklicher.
Viele Vielleicht‘s, wenig Antworten, aber eine Tatsache gibt es: Sie wären in jedem Fall resilienter gegen Stress und die Widrigkeiten des Lebens.
Der permanente Stress, der emotionale Missbrauch, all das hat dazu geführt, dass Ihr Gehirn auf „Überlebensmodus“ gewechselt ist. Die allgemeine Reaktion unseres Gehirns auf traumatische Erfahrungen ist es, mit Überlebensstrategien darauf zu reagieren. Grundsätzlich bedeutet dies, dass Sie entweder in einen Flucht- oder Kampfmodus verfallen sind bzw. es gibt noch eine dritte Option: Freeze.
Diese drei Reaktionen Ihres Gehirns auf den andauernden Stress und das Chaos in ihrem Umfeld können dabei situativ und wechselhaft auftreten. So kann eine Person, die unter einem emotionalen Trauma leidet, sich dessen aber nicht bewusst ist, ein starkes Fluchtverhalten an den Tag legen, in einzelnen Situationen jedoch Freeze oder sogar in einen Kampfmodus verfallen, wenn sich einzelne Stressfaktoren in einer Situation häufen. In der Regel wird diese Person jedoch vor dem emotionalen Stress „flüchten“ – denn das ist die „Bewältigungsstrategie“, die sich als am „besten funktionierend“ für die Person herauskristalliert hat.
Jemand anderes wiederrum legt weder ein Flucht- oder Kampfverhalten an den Tag, sondern zeigt in starken Stresssituationen nur Freeze als Strategie, um mit der Situation umzugehen. Freeze bedeutet übersetzt „einfrieren“: Man koppelt sich emotional von dem Stressmoment ab, ist nur noch körperlich anwesend, aber unfähig auf den Stress im Außen zu reagieren, anders formuliert: Die Person schaltet einfach ab.
Eine andere Person kann sich zwar kämpferisch gegen die narzisstischen Eltern zeigen, da dieser jedoch längerfristig nicht zum Erfolg führt (weil auch der Kampfmodus eine „falsche“ Reaktion auf das Trauma darstellt), wird auch dieser Akteur auf der Bühne hin und wieder vor der Situation flüchten und sich körperlich oder geistig dem Ganzen entziehen wollen, z.B. durch häufiges Smartphonenutzen oder Rauchen. Der Stress durch die ständige Konfrontation mit dem Verursacher des emotionalen Traumas führt zu einem nicht enden wollenden Kreislaufs, der für unser Gehirn das Trauma aus der Kindheit immer wieder neu erleben lässt.
Kindern ist es nicht möglich angemessen und gesund mit dem erfahrenen Stress umzugehen. Die Kompetenzen, die Resilienz, die es bräuchte, um damit auf eine gesunde Art und Weise umzugehen, müssten erst erlernt und durch liebevolle und fördernde Eltern dazu angeleitet werden. Doch wie soll Resilienz erlernt werden, wenn einen kein gesunder Erwachsener in seiner Kindheit begleitet?
Die psychischen Krankheiten oder Störungen, das vielleicht selbst erlittene und unverarbeitete Trauma, sie verhindern einen kompetenten Umgang mit den eigenen Kindern und führen dazu, dass die eigenen Kinder zu einer reinen Projektionsfläche für die Eltern werden. Sie werden weder in ihrer eigenen Persönlichkeit gefördert oder begleitet, ja, sie werden nicht einmal gesehen wie sie wirklich sind.
Der Blick auf das eigene Kind ist verzerrt von der gestörten Selbstwahrnehmung der Eltern. Niemand kann diesen Kindern beibringen mit dem Trauma, das ihnen ihre Eltern zufügen, umzugehen. Denn diejenigen, die das tun sollten, sind die Verursacher für Stress, Trauma und Missbrauch. Die Folgen können psychische Krankheiten, wie Depressionen, Zwangsstörungen oder Angststörungen sein. Oder anders formuliert: Durch das erlittene und unverarbeitete Trauma laufen wir immer im Überlebensmodus. Denn unsere „falschen“ Reaktionen auf Stress finden nicht nur auf der Bühne der Familie statt- Nein, wir zeigen tendenziell diese erlernten Stressreaktionen auch in einem „normalen“ Umfeld. Die Bedrohungen aus der Vergangenheit werden zu tagtäglichen Empfindungen – das Trauma aus der Kindheit wiederholt sich.
Diese Verhaltensmuster lassen sich nicht einfach ablegen oder mit oberflächlichen Veränderungen, wie „Ich reagiere nur noch bei jedem dritten Anruf meiner Mutter“ oder „Wenn wir uns übers Wetter bei Kaffee und Kuchen unterhalten, geht es schon“, verbessern. Eine dauerhafte Verbesserung kann nur durch eine dauerhafte Veränderung der inneren Umstände führen. Wir müssen erkennen, dass diese Überlebensstrategien eine Logik folgen.
Es war absolut sinnvoll sich diese Strategien in der Vergangenheit zuzulegen, um in dem toxischen Umfeld zu überleben. Flucht, Kampf, Freeze - abhängig von der Situation werden wir unterschiedliche Modi gewählt haben, um mit dem Stress umgehen zu können. Grundsätzlich werden wir uns aber für eine Überlebensstrategie entschieden haben: Die, die eben innerhalb unserer Familie abhängig von den verschiedenen Familienmitgliedern am besten funktioniert hat. So werden selten alle Geschwisterkinder das gleiche Verhaltensmuster an Tag legen. Denn: Die Jüngeren werden beobachtet haben, dass die vom älteren Geschwisterteil angewandte Überlebensstrategie nicht in dem Ausmaß funktioniert, wie es sich das vielleicht wünschen würde.
Das Problem dabei: Nun als Erwachsene sind unsere Überlebensstrategien keineswegs mehr sinnvoll. Als Erwachsene sollten wir in der Lage sein uns selbstständig Resilienz zu erarbeiten, um gesund und ganzheitlich mit Stress umgehen zu können. Doch in dem Moment, indem unsere Überlebensmodi im Hintergrund weiterarbeiten, ist das schlichtweg nicht möglich.
Wie äußern sich die verschiedenen Überlebensstrategien in der Kindheit?
Waren Sie ein Kind, das hauptsächlich im Kampfmodus agiert hat, wurden Sie eventuell als rebellisch, stur oder störrisch beschrieben. Sie waren tatsächlich ständig im Kampf: Mit ihrer Familie und mit sich selbst. Ihr Widerwille lief konträr zu den absurden Anforderungen und der Willkür ihrer narzisstischen Eltern und dem kindlichen Wunsch Anerkennung von eben jenen zu bekommen. Sie konnten es niemanden recht machen, und das hat Sie wütend werden lassen. Der Versuch „auszubrechen“ stand immer dem Bedürfnis nach Sicherheit und liebevoller Zuwendung gegenüber. Wurden Ihnen dann emotionale Brotkrümel hingeworfen, so waren Sie wie alle Kinder dankbar für die wenigen Momente der positiven Zuwendung. Als Kind und wahrscheinlich auch als Teenager waren Sie von einer ständigen Anspannung getrieben – eben immer bereit für einen weiteren Angriff. Über die Jahre hat sich der Fokus verschoben: Weg von den eigentlichen Verursachern für Stress und Unruhe, hin zu einer gefährlichen Welt. Sie werden wahrscheinlich die Tendenz entwickelt haben, der permanenten Anspannung mit Kompensation entgegenzuwirken. Haben angefangen sich schlechte Angewohnheiten zuzulegen, um mit dem inneren Stress, der sich doch nie auflösen lässt, umzugehen. Haben eventuell Ärger im Außen gesucht (und gefunden), um die innere Wut gespiegelt zu bekommen.
Die Unruhe, die Anspannung sind nie von Ihnen gewichen. Eventuell haben Sie ein Problem damit ihre Wut adäquat in Worte zu fassen oder tendieren zu explosionsartigen Aggressionen. Sie versuchen innerhalb ihres Umfeldes das zu erreichen, was Sie in ihrer Kindheit gebraucht hätten: Sicherheit, die Sie versuchen durch Kontrolle nachzuempfinden. Doch auch bei Ihnen hat sich der Glaubenssatz „Ich bin nicht genug“ festgesetzt, denn schlussendlich war es das was Ihnen ihre Eltern gespiegelt haben. Sie haben Ihnen keinen Raum gegeben, um ihre Wut auszudrücken. Sie haben Ihnen Desinteresse und Ignoranz entgegengebracht, wie es eben nur narzisstischen Eltern zu eigen ist. Auf ihre laute Wut wurde mit vehementem Schweigen reagiert – Nie hat sich etwas geändert, egal was Sie getan oder gesagt haben. Das hat sich festgesetzt.
Waren Sie hingegen ein Kind, das hauptsächlich die Überlebensstrategie Flucht für sich angewendet hat, waren Sie in erster Linie von Angst und dem starken Bedürfnis nach Rückzug getrieben. Sie waren eher ein ruhiges, vielleicht unauffälliges Kind, das früh gelernt hat „unter dem Radar“ der narzisstischen Eltern zu verschwinden. Das kindliche Bedürfnis nach Sicherheit, das nie erfüllt wurde, bleibt auch als Erwachsener bestehen. Sie haben sich innerhalb ihrer Familie unwohl gefühlt und haben schnell das adaptiert, was Ihnen ihre narzisstischen Eltern „beibringen“ wollten: Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu ignorieren. Es war einfacher für Sie (und ist es auch heute noch) sich selbst und die eigenen Gefühle zu unterdrücken statt dem unerträglichen Stress, den Sie bei Kontakt mit ihrer Familie empfinden. Zu groß ist die Angst eines Kindes alleine zu sein. Flucht als Überlebensstrategie meint den Versuch sich abzugrenzen und in andere Realitäten zu fliehen. Das kann durch Tagträumerei stattfinden, durch Fernsehen, Computerspiele oder lesen. Wenn all dies in einem gesunden Rahmen vollzogen wird, ist daran nichts verkehrt. Doch in einem toxischen Familiensystem nimmt der Wunsch der Realität zu entfliehen überhand, was sich dann in einem exzessiven Rückzug äußert. Sie waren als Kind nicht in der Lage der Übergriffigkeit und Grenzenlosigkeit ihrer narzisstischen Eltern zu entkommen. Die Realität war für Sie nicht zu ertragen, weshalb es einfacher für Sie war, in eine andere zu flüchten. Eine, in der Sie der Held waren – oder der Bösewicht. In der Sie ihre Gefühle der Machtlosigkeit kompensieren konnten und sich so fühlen konnten, wie Sie es in der Realität nie konnten: Stark und unabhängig.
Flucht vor den Widrigkeiten des Lebens als Strategie legen Sie auch noch als Erwachsener an den Tag. Konflikten gehen Sie weiträumig aus dem Weg. Sie haben Probleme für sich selbst einzustehen oder überhaupt erst ihre wahren Bedürfnisse zu erkennen. Ihre kindlichen Gefühle der Hilflosigkeit und Wertlosigkeit empfinden Sie auch noch als Erwachsener, weshalb Sie nicht in der Lage sind, sich pro-aktiv aus schwierigen Stresssituationen zu befreien. Ihre passive Energie macht es Ihnen schwer, Worte und besonders Taten zu zeigen, die ihren Wünschen entsprechen.
Waren Sie als Kind sehr angepasst und ruhiger Natur, haben Sie eventuell die Überlebensstrategie Freeze oder Schockstarre angewandt, um mit der übermächtigen Präsenz ihrer narzisstischen Eltern umzugehen. Freeze zeichnet sich dadurch aus, dass Sie bei Stress und Konflikten gar nicht reagieren. Sie sind wie eingefroren und haben gelernt mit dem Stress im Außen umzugehen indem Sie einfach „abschalten“. Als Kind haben Sie dahingehend sehr unproblematisch auf ihre narzisstischen Eltern gewirkt. Sie haben alles mitgemacht, haben keinen Widerwillen gezeigt oder gar eigene Bedürfnisse eingefordert. Sie sind so „nebenher“ mitgelaufen – absolut angepasst an die Bedürfnisse der restlichen Familienmitglieder. Wie ein Kaninchen, das sich einer Schlange gegenübersieht, standen Sie hilflos und starr ihren narzisstischen Eltern gegenüber. Der Stress, den Sie dabei empfinden, ist jedoch enorm. Doch dringt kein Laut aus ihrem aufgewühlten Inneren nach Außen. Zu groß ist auch hier die Angst. Sie haben nie gelernt für sich selbst einzustehen, ganz im Gegenteil, Sie haben gelernt, wenn Sie ihre Bedürfnisse und sich selbst vehement unterdrücken, erfahren Sie so etwas wie Zuneigung oder Akzeptanz von ihrem Umfeld. Sie empfinden wenig oder auch gar keine Wut über die Ungerechtigkeiten, die Ihnen widerfahren, die übertriebene Anpassung an die Wünsche ihrer narzisstischen Eltern hat Sie taub werden lassen für ihre eigenen (berechtigten!) Emotionen. Hier ist die Gefahr für psychische Krankheiten groß, wenn die ungesunden Verhaltensmuster nicht abgelegt werden können. Störungen, wie Zwangsstörungen oder Angststörungen können auftreten, ist man nicht in der Lage seine wahren Bedürfnisse und Gefühle von denen der anderen zu unterscheiden. Sie haben Angst Sie selbst zu sein. Denn dafür würden Sie bestraft werden. Ihr kindliches Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung ist so groß und unerfüllt, dass Sie willig sind ihre komplette Persönlichkeit ihren narzisstischen Eltern unterzuordnen. Die Misshandlungen gegen Sie können dabei relativ heftig und aggressiv ausfallen, doch da Sie ansonsten „ruhig“ und angepasst reagieren, fällt es ihrem Umfeld schwer Ihnen und ihren seelischen Verletzungen Aufmerksamkeit zu schenken. Durch ihre Überlebensstrategie Freeze sind Sie in einem Kreislauf gefangen, der es ihren narzisstischen Eltern sehr einfach macht Ihnen Leid zuzufügen. Denn Sie zeigen keinerlei wütende Reaktion auf die narzisstischen Attacken oder können gar mit Konsequenzen auf die Misshandlungen reagieren. Ihre Überlebensstrategie macht Sie nicht nur hilflos, es hält Sie auch in ihrer kindlichen Hilflosigkeit.
Comments