Narzissmus in der Familie: Warum kann ich mein Trauma nicht mit der Familie lösen? - Teil 2
- Vanessa
- 16. Jan.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Apr.
Lass mich dir hierzu eine kleine Geschichte erzählen:
Der Zaun
Stell dir vor, du bist ein zufriedener Haus- und Gartenbesitzer. Du hast dir deinen Traum verwirklicht und lebst in einem Häuschen mit einem wunderschönen Garten.
Nur eine Sache musst du noch erledigen: Einen Zaun um dein schönes Grundstück ziehen. Du fängst ruhig und gelassen mit deiner Arbeit an. Du hast keinen Zeitdruck, die Arbeit macht dir Spaß und du kommst gut voran. Der Zaun ist fast fertig und du betrachtest stolz dein Werk. Dann kommt der Nachbar von nebenan vorbei. Du grüßt ihn freundlich, doch er beachtet dich kaum. Er kommt zu deinem Zaun, wirft einen mürrischen Blick darauf und macht dann folgendes: Er macht ihn einfach kaputt.
Er tritt mit aller Kraft dagegen, vielleicht nimmt er sogar Werkzeug zu Hilfe, auf jeden Fall ist dein Zaun innerhalb von Minuten vollkommen zerstört.
Die Arbeit von Stunden innerhalb kürzester Zeit zunichte gemacht. Du stehst fassungslos daneben, während der Nachbar sich ohne Worte wieder auf den Weg zurück in sein Haus macht.
Vielleicht fasst du dich rechtzeitig wieder und rufst ihm noch etwas hinterher oder hast schon versucht ihn aufzuhalten, doch es ist zu spät: Dein Zaun ist vernichtet und der Verantwortliche dafür weg.
Was willst du nun machen? Vielleicht wirst du wütend und stürmst zu seinem Haus, klingelst sturm. Doch was passiert? Er macht die Tür nicht auf.
Du weißt, er ist in seinem Haus, doch er öffnet einfach nicht und bleibt stumm in seinem sicheren Zuhause. Du musst mit deiner (berechtigten) Wut im Bauch aufgeben und abziehen.
Vielleicht wirst du auch traurig, gehst niedergeschlagen in dein eigenes Zuhause.
Vielleicht willst du jemanden von diesem Erlebnis erzählen. Doch das Ergebnis ist stets das Gleiche: Der Verantwortliche zeigt sich nicht mehr.
Und dein Zaun? Deine Arbeit? Zunichte gemacht.
Es ist der nächste Tag: Dein Zaun ist weiterhin kaputt. Du stehst in deinem Garten, hast dich wieder gefasst und überlegst, was zu tun ist. Da kommt der Nachbar vorbei. Diesmal grüßt er dich freundlich und bleibt bei dir stehen. Du kannst kaum glauben, wie unverfroren er doch ist, nimmst aber deinen Mut zusammen und sprichst ihn auf gestern an.
Seine Reaktion trifft dich jedoch völlig unerwartet: Er leugnet alles. Er mustert den kaputten Zaun und sagt einfach „Das war ich nicht,“ und „Sie irren sich“, „Das haben Sie sich wohl eingebildet“ oder „Sie lügen doch, so etwas würde ich niemals tun“ und verschwindet wieder.
Fassungslos blickst du ihm hinterher. Vielleicht hast du ihm noch versucht zu erklären, dass er es DOCH war, doch er lässt sich nicht darauf ein. Du stehst in jedem Fall wieder alleine in deinem Garten, alleine mit deinem kaputten Zaun.
Du merkst, dass du so nicht weiterkommst.
Also beginnst du mit deiner Arbeit von vorne.
Nun wird folgendes passieren: Das Ganze wiederholt sich. Dein Nachbar wird immer wieder deinen Zaun kaputt machen wollen. Und jedes Mal, wenn du ihn zur Rechenschaft ziehen willst, wird er alles von sich weisen.
Vielleich wirst du dir Hilfe von Außenstehenden holen. Doch auch diese können nicht viel dagegen machen. Dein Nachbar unternimmt unter Zeugen nichts, sodass keiner deine Geschichte bestätigen kann.
Vielleicht wird er es sogar umdrehen und behaupten du würdest deinen Zaun immer wieder zerstören, um Aufmerksamkeit erregen zu wollen.
So langsam musst du befürchten, dass dir keiner mehr glaubt. Vielleicht wirst du irgendwann richtig wütend, versuchst handgreiflich zu werden, doch es nützt nichts. Vielleicht wird er dich dafür sogar noch anzeigen wollen. Vielleicht wirst du alles Mögliche probieren, um ihn zu erwischen, zum Beispiel mit Videokameras. Doch es nützt alles nichts. Vielleicht hast du auch mal wochenlang ihre Ruhe. Vielleicht passiert die Zerstörung auch mal in deiner Abwesenheit.
Vielleicht wirst du mit der Zeit wirklich an deinen Verstand zweifeln.
Oder fängst an Erklärungen für das Verhalten des Nachbars finden zu wollen: „Vielleicht stört ihn der Zaun ja? Darf ich dort überhaupt einen Zaun aufstellen?“
Der Konflikt ist in jedem Fall nicht lösbar. Am Ende jedes Tages stehst du alleine mit deinem beschädigten Zaun da.
Kommt dir das Gefühl bekannt vor? Deine Rechte, deine Freiheiten, deine Privatsphäre, deine Gefühle - alles wird mit Füßen getreten und eingerissen. Und nun überleg dir bitte folgendes: Stell dir vor, du stehst nach unzähligen Zerstörungsakten vor deinen Trümmern und der Nachbar käme wieder einmal zu dir herüber und meint: „Ja, Sie hatten die ganze Zeit recht, ich war es!“ Und geht wieder.
Wie würde sich das anfühlen? Es wäre wohl kaum eine Freude oder Erleichterung. Die Wahrheit ist: Es wäre lächerlich.
Denn in den Momenten, in denen du Hilfe benötigt hättest, nämlich beim (Wieder-) Aufbau des Zaunes, hast du keine Hilfe bekommen – ganz im Gegenteil.
Wie könnte der Verursacher für die Zerstörung eine Hilfe beim Wiederaufbau sein, insbesondere wenn er wiederholt zuschlägt?
Das Trauma ist die wiederholte Zerstörung - wie also soll hier Wiedergutmachung geleistet werden? Was nützt also seine Aussage? DU wusstest es doch schon die ganze Zeit. DU hast es schließlich erlebt.
Meinst du, du hättest überhaupt Interesse daran, dass mit dem Nachbarn „alles gut“ wäre? Wohl kaum, schließlich hat er dich unzählige Male völlig grundlos gedemütigt und des Lügens bezichtigt. Er war übergriffig und hat dir gedroht. Würdest du mit so einem Menschen befreundet sein wollen? Warum solltest du diesem Menschen vertrauen? Er hat schließlich mehrmals BEWIESEN, wie er als Mensch wirklich ist.
Du wirst dich jetzt vielleicht fragen, wie du dich aus der Situation befreien kannst.
Sollst du wegziehen? Denn bleibst du dort wohnen, müsstest du mit erneuten Übergriffen rechnen. Aber es ist doch dein Zuhause, auf das du dich so gefreut hast.
Trotzdem könntest du dir NIE ganz sicher sein, dass der Nachbar dich in Ruhe lässt und hättest sehr viel Stress bei dem Gedanken was alles noch passieren könnte.
Was also willst du tun? Du hast doch ALLES probiert, hast dir Hilfe und Unterstützung geholt, hast dich gewehrt, hast dein Bestes versucht, um ihn auffliegen zu lassen. Nur, um der Welt zu BEWEISEN, dass jemand anderes für die Zerstörung deiner Grenze verantwortlich ist – es hat alles nichts genützt.
Tatsächlich gibt es nur eine einzige Möglichkeit: Bau dir einen neuen Zaun, aber diesmal einen Zaun, den man nicht so leicht niederreißen kann. Bau einen Zaun aus Stein, aus Granit, aus Osmium, aus Titan, aus Graphen – aus den härtesten Materialien der Welt. Einen Zaun, der alles aushalten kann.
Einen Zaun, der dich und dein Zuhause absolut sicher macht. Den man auch mit allen Werkzeugen der Welt nicht zerstören kann.
Vielleicht bist du mal eine Weile abwesend und der Nachbar nutzt den Moment, um sich erneut an deinem Zaun zu schaffen zu machen. Vielleicht schafft er es sogar ihn an einer Stelle zu beschädigen. Doch das ist dir egal, es ist nur ein Riss. Du könntest ihn ganz leicht reparieren. Nur ein Riss im ansonsten stabilen Fundament.
Wichtig ist zu verstehen: Der Nachbar ist faul.
In dem Moment wo der Zaun stabil und fest steht, in dem Moment in dem es ihm Mühe macht ihn einreißen zu wollen, wird er es sein lassen. Sobald er echten Widerstand spürt, werden seine Versuche nachlassen. Vielleicht wird er es am Anfang noch probieren wollen, doch sobald erkannt wird, dass dieser Zaun stabiler ist wie sein eigener Wille, wird er aufgeben.
Und du wirst erkennen: Er hat deinen Zaun nur immer wieder beschädigt, weil es einfach für ihn war.
Dabei geht es um zwei Dinge:
1. Du brauchst Zeit für solch einen stabilen Zaun. So ein Zaun ist kein Ein-Tages-Projekt. Nein, du wirst lange brauchen, um deine Grenzen so festzustecken, dass sie keiner ungewollt überwinden kann.
2. Du brauchst hochwertige Materialien, um einen stabilen Zaun zu bauen. Du wusstest es zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber du hattest das richtige Werkzeug und Material schon die ganze Zeit bei dir. Aber du warst zu abgelenkt von dem was sich tagtäglich vor deiner Haustür abspielte.
Welche Materialien und Werkzeug du benötigst? Wut, Selbstliebe und Mut. Schlussendlich willst du dir hier deine psychische Resilienz aufbauen.
Wut hilft dir deine Grenzen überhaupt erst zu erkennen, Selbstliebe bestimmt die Höhe und Stabilität deines Zauns und ein bisschen Mut brauchst du, um deinen Zaun vor Anderen zu verteidigen bzw. vielleicht auch, um ihn erst einmal so richtig aufbauen zu können.
Vielleicht wirst du dich fragen, ob es dir geholfen hätte, wenn der Nachbar nicht nur zugegeben hätte, dass er es war, sondern wenn er Einsicht gezeigt hätte und dir beim Wiederaufbau des Zaunes geholfen hätte.
Doch dazu muss ich fragen: Hätte er dir helfen können?
Meinst du nicht, dass jemand, der immer wieder zu solch zerstörerischem Verhalten tendiert schlichtweg nicht in der Lage ist, anderen zu helfen?
Wie soll es möglich sein anderen zu helfen, wenn man sich selbst nicht einmal helfen kann?
Es wäre die Aufgabe deines Nachbarn gewesen sich um seinen Zaun zu kümmern. Stattdessen hat er sich willentlich immer wieder dafür entschieden deine Grenzen zu übergehen.
Zudem spielt hier Vertrauen eine große Rolle. Jemand, der jahrelang der Verursacher für Stress und Konflikte in deinem Leben war, hat dein Vertrauen verloren. Selbst wenn du es (noch) nicht zugeben willst: Du hast bereits Mechanismen entwickelt, um dich deinem Peiniger (mental) zu entziehen. Du bist unsicher, vorsichtig und zweifelnd geworden. Und das ist absolut berechtigt!
Wie könntest du jemals sicher sein, dass eine Einsicht eine echte Einsicht ist und kein Versuch deine Grenzen erneut zu umgehen, nur eben auf eine andere Art und Weise? Du warst in ständiger Alarmbereitschaft, hast ständig nur auf die zerstörerischen Aktionen deines Nachbarn reagiert ohne Chance dich zu regenerieren.

Die traurige Wahrheit ist: Du kannst NIE ganz sicher sein, dass die Angriffe aufhören.
Du hast nur eine Möglichkeit: Baue dir einen neuen, stabilen, unzerstörbaren Zaun aus den richtigen Materialien. Nimm dir Zeit dafür. Und du wirst sehen, wie sich die Menschen, die dir Schaden wollen, die Zähne daran ausbeißen.
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